Im Land des Sonnenuntergangs

Nach 8 Stunden Flug und 3 Stunden Autofahrt nach kann ich es kaum glauben: Störche. Auf jedem Hausdach mindestens einer. So viele habe ich in meinem Leben zusammengenommen noch nicht gesehen. Ich sollte zum Arbeiten eine Woche nach Marokko, Filmton aufnehmen. Das klang spannend, weil das doch Afrika ist und wegen der Berber und da ist ja alles ganz anders und trotzdem ist das immer noch Arabien. Und dann komme ich an, und da sind Störche.

“Im Winter fliegen die Vögel nach Afrika” haben wir als Kinder gelernt. Und Afrika, das hatte einen Klang: unerreichbar weit weg und irgendwas zwischen Wüste und Dschungel. Auf jeden Fall gibt es da, soviel wussten wir, schwarze Männer und Länder mit lustigen Namen. Und wir fragten uns gelegentlich, was Amsel, Drossel, Fink und Star denn dort so treiben, und wie die eigentlich so zurechtkommen. Stellt sich raus: Vogel sein und ziemlich gut. Nicht dass ich die jetzt im Einzelnen auseinanderhalten könnte, dazu bin ich dann wohl nicht Dorfkind genug. Alles was ich weiß ist, dass die Amsel einen gelben Schnabel hat und der Fink so einen knuffig kurzen. Einen Storch hingegen… den erkennt man einfach. Aber auch die Gegend in der er lebt sieht irgendwie bekannt und gänzlich unafrikanisch aus.

Aber der Reihe nach. Zuerst wird in Casablanca gelandet auf einem Flughafen, der so klein ist, dass da keine zwei Maschinen gleichzeitig in der Passkontrolle abgefertigt werden können. Zudem scheint man dort Zettel zu mögen, schon im Flugzeug soll einer ausgefüllt werden. Der wird aber nicht eingesammelt, sondern dem Einreisebeamten am Schalter vorgelegt. Der stempelt den dann ab, stempelt was in den Pass, krakelt überall ein bisschen dran rum und packt den Zettel auf einen großen Haufen. Und schon geht’s ins Land.

Dort ist es erst mal seltsam: es riecht ein wenig komisch. Also nicht in dem Sinne, dass es stinkt, sondern eher wie “noch nie gerochen”. Weiters tragen alle Menschen Jacken oder ähnlich wärmende Oberbekleidung. Diese Kleidung sieht meistens nicht ganz neu aus. Sie gucken auch ein bisschen komisch, aber das kann daran liegen, dass ich mit einer Gruppe Filipinos reise und weder “Westler” noch Filipinos hier sehr verbreitet sind. Es ist also kurz gesagt ganz schön anders. Außerhalb der Ankunftshalle ist es erfrischend. Nicht kalt, aber doch unter 20 Grad. Und ruhig im Vergleich zu Dubai, was auch an dem eher kleinen Flughafen liegen kann. Das Gefühl ist eher Schkeuditz als Rick’s Café. Nach einem ersten Halt in einem kleinen Bistro und der Einführung in marokkanischen Tee geht es via Rabat in Richtung Ifrane.

Der maghrebinische Tee ist Grüner Tee mit Minze in Zucker gelöst. Das klingt furchtbar, schmeckt aber wahnsinnig gut – wenn auch immer anders. Das Eingießen wird zelebriert und klappt selbst beim Laien (mir) ohne nennenswerten Schankverlust, obwohl die Gläser aus mehr als 30cm Höhe befüllt werden. Auf die Frage “warum” lautet die Antwort in etwa: “Es ist so Brauch”. Egal, ab jetzt wird maghrebinischer Tee getrunken. Das ist übrigens eines der Dinge, die nur schmecken, wenn man dort ist. Dann aber sehr gut.

I have seen poverty in Morocco, I have seen poverty elsewhere. Here, people are just poor. Elsewhere, they are desperate.

Das Land – zumindest im Norden – erinnert an Südfrankreich und Rumänien. Südfrankreich: die Landschaft, Rumänien: die Armut. Derer gibt es eine Menge, man sieht Menschen neben Müllkippen wohnen und darauf nach Verwertbarem suchen. Menschen, die einfach nichts tun und auf der Straße den Autos hinterhergucken, weil sie sonst nichts zu tun haben. Menschen, die alles mögliche versuchen zu verkaufen, um wenigstens ein bisschen was zum Leben zu haben. Allerdings berichten alle befragten Marokkaner einstimmig, dass die Menschen zwar arm aber glücklich seien und noch keiner Hungers gestorben wäre. Erfroren hin und wieder schon, aber das läge wohl an der mangelnden Vorbereitung auf den Winter.

Auf der Müllkippe haben die Menschen Gesellschaft vom Storch, der dort reiche Beute findet. Früher sind die Störche bis weit nach Westafrika gezogen (sogar von Marokko aus), jetzt wollen sie meist nicht mehr weiter als Spanien. Die Halden bieten alles, was ein Storch zum Essen braucht, und er spart sich den Weg. Doch was für ein Bild: Adebar, der stolze Storch – ein Flaschensammler, Aasfresser, Müllwühler. Und so richtig gut bekommt es ihm auch nicht.

Entlang der Straße werden Schafe und Kühe gehalten, die auch manchmal unvermittelt kreuzen. Oder über eine Fußgängerbrücke über die Autoroute geleitet werden. Viele Lasten werden nach wie vor mit dem Esel transportiert. Das zu sehen macht immer so eine wildromantische Stimmung und ist doch pure Not/wendigkeit. Der andere Esel ist der Mercedes W123 – ja, die fahren alle noch und die fahren offensichtlich alle hier. Und wie: ein waidwunder Diesel schleppt seinen Auspuff über die Straße scheppernd hinter sich her und der Motor kennt Kompression auch nur noch aus den Geschichten der Altvorderen – das Ding muss jeden Moment auseinanderfallen. Da gibt es bestimmt gerade ein akutes Problem. Gibt es nicht: am nächsten Tag kreuzt es in gleichem Zustand den Weg, nur dass es dieses Mal auch noch ordentlich beladen ist. Drumherum kreisen alte Peugeot mit “Der eine für alle”-Aufkleber auf der Heckscheibe und noch ältere Renault. Nicht alle Fahrzeuge sind jedoch in diesem Zustand, es gibt auch ein paar neuere Wagen. Vorwiegend Dacia, oder welche mit französischem Kennzeichen. Der Wagen, deswegen wir hier sind, ist hingegen der einzige seiner Art in ganz Marokko. Zu teuer.

Aus dem Flugzeug ist Europa zum Greifen nah, und ein bisschen Sehnsucht nach “Dem Alten Land” macht sich breit. Das verschwindet auf der Fahrt durch Marokko schnell: es wirkt einfach sehr oft sehr europäisch, was auch dadurch unterstützt wird, dass alle französisch sprechen. Unvermittelt jedoch stehen wir an einem Café, dessen Beschriftung nur Arabisch und / Tifinagh ist. Das reißt dann immer wieder ein Loch in die Wärmejacke der Gefühle. Und wir bewegen uns nur im Norden. Marokko hat mehr zu bieten: einer unserer Fahrer fror morgens bei leichten Plusgraden sehr. Ich fragte ihn, wo er denn herkäme und er meinte: aus der Sahara. Da fällt zwar manchmal sogar Schnee, aber so eine Art Kälte kennen sie da nicht. In den Bergen vergisst man schnell, dass das zum Land gehört. Und nach dem, was ich auf Bildern gesehen und erzählt bekommen habe, ist es dort außerordentlich schön.

In Ifrane hingegen sieht es aus wie in einer alpinen Kleinstadt Frankreichs oder der Schweiz. Häuser mit Spitzdächern, ansonsten recht zweckdienliche, naturnahe Architektur und kein bisschen Afrika oder das, was man sich darunter vorstellt. Wenn man allerdings weiß, dass die Franzosen die Stadt gegen das Heimweh gebaut haben, ist dann auch alles klar. Die Luft ist frisch, die Bäume unbelaubt, die Gegend in weiten Teilen atemberaubend. Alles ist grün und was nicht grün ist, ist für den Sommer umgepflügt. In großen Mieten, die wie Hotdogs auf den Hügeln liegen, lagern die Zwiebeln und harren ihrer Weiterverbreitung. Und Schafe, überall Schafe.

Das Hotel ist ein feines und passt zur Stadt. Die Bar lockt mit wohlbelederten Sofen und Sesseln, mehreren Kaminen, die Wärme spenden, und Beleuchtung, die am besten lautmalerisch wiedergegeben werden kann. Auf dem Zimmer dann gusseiserne formschöne Heizkörper und ein rustikales Holzbett mit Giebel. Abends kommt jemand und bringt zwei Stück Schokolade und ein Wasser, obwohl niemand darum bat. Das kleine Bier kostet 9 Euro. Die Minibar entdecken wir, als der Rezeptionist am Abreisetag einen prüfenden Blick hinein wirft.

Die Umgegend sieht immer noch schön aus, aber jetzt anders. Kleine Orte werden durchfahren mit viel Authentizität, und ein Wald in dem Affen wohnen. Naturschutzgebiet, aber voller Plastikmüll. In Ifrane (“die sauberste Stadt Marokkos”) und Rabat wird der Müll zumindest in belebten Bereichen außer Sicht geräumt. “Auf dem Land” ist es ein wenig anders.

Zum Mittag gibt es Tajine. Das ist Fleisch unter Kartoffeln und Möhren versteckt und im Tontopf gegart. Großartig! Auch wenn unsere lokale Begleitung uns vom bereitgestellten Wasser im kleinen Bistro am Straßenrand eher abrät und wir lieber Flaschenwasser kaufen sollen. Er meint, er vertrage es, aber das hier sei nicht Dubai…

Azrou

Die lokale Tracht – Djellaba – ist bemerkenswert und macht neidisch: sie sieht aus wie ein Bademantel. Das weckt Erinnerungen an Jeff Bridges und Begehrlichkeiten, den ganzen Tag so rumzulaufen, ohne dafür schief angeguckt zu werden. Sogar draußen. Denn Es Ist So Brauch. Frauen tragen manchmal Hijab, manchmal nicht. Sie müssen nicht, keiner zwingt sie. Manchmal haben sie bunte lange Kleider an, manchmal eher so normale Sachen. Dem Vernehmen nach stören sich hin und wieder ältere Männer daran und sprechen die Frauen darauf an, die ihnen dann entgegenhalten, dass diese Männer – ihrem Rollenverständnis nach – der Frauen Bruder, Ehemänner oder Altvordere seien müssten, um so mit ihnen zu reden. Und dann geht jeder seiner Wege. Allerdings gibts es wohl auch Belästigungen verbaler Art, wenn Frauen unbegleitet durch bestimmte Gegenden gehen. Das passiert vorzugsweise in der Stadt, weniger auf Dörfern.

Kurz vor Schluss gibt es noch mal eine Prise Authentizität: Fes. In Fes gibt es eine Altstadt, die etwa 1200 Jahre alt ist, und eine Uni, die 859 gegründet wurde – übrigens von einer Frau. Die Medina von Fes hat enge Gassen und welche, in denen man sich fast seitwärts drehen muss. “Geschäftiges Treiben” sieht wohl so aus: es ist voll und es ist laut, und man verirrt sich verdammt schnell. Mit dem engen Zeitplan gab es aber keine Möglichkeit, wirklich viel zu sehen.

Und so tun wir es schlussendlich dem Storch nach und ziehen in wärmere Gefilde. Dazwischen haben höhere Mächte noch den Flughafen von Casablanca gesetzt, der plötzlich gar nicht mehr so klein, dafür um so furchtbarer ist. Da hat wirklich wer einen Narren an Papier gefressen, nur weiss niemand, wer was wann ausfüllen muss – und wie es danach weitergeht. Unter anderem spielt ein Zettel wie der eingangs erwähnte eine Rolle. Aber irgendwie funktioniert es doch. Es hat auch Gründe, warum das so gemacht wird, dazu später mehr.

Nach 7 Stunden Flug (mit dem Wind geht es schneller) komme ich wieder zu Hause an, und zum ersten Mal ist es fühlt es sich nicht nur wie ankommen an, sondern wie heimkommen.